· 

Loblied auf die Krankheit

Gesundheit ist das Allerwichtigste – so hört man es gerade in der letzten Zeit immer wieder. Eine ganze Industrie lebt davon, dass wir dauergesund lächelnd noch mit 90 den Himalaya hochklettern möchten. Das schlechte Gewissen treibt uns nach der fetten Weihnachtsgans auf Geräte, die uns versprechen, den Faux Pax einfach verschwinden zu lassen. Krankheit hat gut eingegrenzte Orte, an denen sie uns präsentiert wird: zur Spielfilmpause die schniefenden, wehleidigen Menschen, mehrheitlich Männer, denen es mit der Markenmedizin sofort besser geht. Und im Spielfilm dann heroische Menschen, die an unheilbaren Krankheiten leiden, meistens aber noch unfassbar schön dabei aussehen und ihr Schicksal mit buddhaesker Weisheit annehmen und ertragen. So im Fernsehen ist Krankheit auch ganz gut aufgehoben. Es ist ein bisschen wie in einem gruseligen Film, bei dem einem Schauer über den Rücken laufen, aber man kann ja jederzeit ausschalten.

 

Aber was nun, wenn es einen doch selbst erwischt? Wo ist der Aus-Schalter, wenn man ihn mal braucht? Plötzlich ein Riss in der felsenfesten Annahme, dass Gesundheit immer und ständig da ist. Selbst ein grippaler Infekt ist wie eine wildgewordene kleine Hyäne, die sämtliche Pläne, die man so hatte, in kürzester Zeit genüßlich zerfetzt. Gemeinsam mit der sich inzwischen zufrieden die Pfoten leckenden Hyäne sitzt man dann auf der Couch – ein Schatten seiner selbst. Zumindest ich habe in solchen Momenten wenig gemein mit Buddha, sondern eher mit den Männern aus den Medizin-Werbespots. Wer hatte nicht mal den Gedanken, dass ein paar Tage krank sein auch mal nicht schlecht wären, wenn man lange von Hals, Schnupfen, Gliederweh verschont blieb und der Arbeitsstress die Sehnsucht nach Zuhausebleiben auslöst? Von solchen Gedanken ist man schnell geheilt, wenn die Krankheit dann doch mal um die Ecke kommt, hoffentlich eine, die nicht allzu gravierend ist.

 

Gesundheit ist so selbstverständlich wie die Zusammensetzung der Atemluft um uns herum: wir WISSEN, dass 21% Sauerstoff nötig sind. Das Wunder dieser perfekt austarierten Balance spüren wir aber erst dann, wenn ein Zauberer mal schnell den Sauerstoff in seinem Hut verschwinden lässt. Mit etwas Glück sind wir dabei an einen Zauberer geraten, der uns nur mal schnell ein bisschen Weisheit vermitteln wollte und all der Sauerstoff darf wieder in die Atemluft, sodass wir wieder tief und dankbar einatmen können, ohne bleibende Gesundheitsschäden. In jedem Fall werden wir auch nach Auszug der Hyäne von unserer Couch plötzlich wahrnehmen, dass bisher absolut selbstverständliche Aktionen sich ganz neu und zauberhaft anfühlen: aufstehen, ohne sich dabei schwach zu fühlen. Jede Nuance im Geschmack des Frühstücksapfels wahrnehmen, wieder die Freude von gemeinsamen Erlebnissen mit anderen zu erleben, die man nun nicht mehr vor den eigenen Viren und Bakterien schützen muss.

 

Nein, ich möchte nicht Krankheit als den erstrebenswerten Zustand darstellen, aber jeder von uns wird sich mit ihr in der einen oder anderen Weise auseinandersetzen müssen. Sie ist wie eine archaische, dunkle, etwas unheimliche Priesterin, die uns in Bereiche unserer Seele führen kann, die wir freiwillig nie betreten würden. Sie lässt uns an Ritualen teilnehmen, jenseits aller Zivilisation, bringt uns an tiefes verdrängtes Wissen. Wenn wir schließlich nach der Lehre bei ihr zurückkehren dürfen in die Welt, dann vielleicht mit mehr Zutrauen in die Stärke von uns und unserem Körper. Mit gereinigten Augen, die all die Schönheit um uns wieder klarer wahrnehmen. Nur das, was uns nicht selbstverständlich ist, lieben wir wirklich und wahrhaftig. Das Bewusstsein, dass es sich um ein Geschenk handelt, das uns überlassen wird, ohne Garantien, aber mit der Möglichkeit, jeden gesunden Moment auszukosten, zu feiern und sorgsam mit dieser Leihgabe umzugehen. 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0