· 

Meer im Alltag angekommen

Meine Ostsee - wie ich sie liebe, diese begabte Bühnenbildnerin, die mal eine Szenerie eines glatten glänzenden gigantischen Sees gestaltet, ein anderes Mal die dramatischen Wogen eines Weltmeeres nachstellt. Geboren nur einen Möwenflug weit entfernt, nahmen mich die Strömungen des Lebens mit an Orte, die weit näher an südlichen Meeren lagen. Im Gepäck blieb die Sehnsucht nach dem kleinen Nordmeer der Heimat, manchmal fast vergessen und ganz tief vergraben, aber in Zeiten von Kummer und Sorgen stieg die Stimme dieser Sehnsucht an die Oberfläche. Erst ganz leise, dann unüberhörbar drang dieser Sirenengesang an meine Ohren und ich wollte mich dagegen gar nicht erst wehren: immer fand sich ein Weg, dass ich schließlich an einer der nordöstlichen Küsten saß und meine rasenden Gedanken von der Meeresbrise beruhigen und sortieren ließ. Eines Tages, mitten auf einer kleinen Ostseeinsel war alles so verknotet, dass selbst dies nicht mehr ausreichte und ich einfach nur an der Ostsee bleiben wollte. Ich muss es wohl halblaut in den Seewind gesprochen haben und vielleicht nahm der Wind meine Worte mit an einen Ort, wo man Wünsche durch glückliche Fügungen erfüllt.

Schnitt! Die Hauptdarstellerin des Films läuft an der Strandpromenade entlang, ein breites Lächeln im Gesicht und würde am liebsten jedem der entgegenkommenden Touristen erzählen, dass sie tatsächlich nicht irgendwann vom Meer irgendwohin nach Hause fahren muss, sondern jetzt für immer hier bleiben wird. Ein Schwenk der Kamera auf einen postkartenwürdigen Sonnenuntergang, blutrotes Wasser, der Abspann läuft, vielen Dank an alle, die diesen Plot nach Hollywood gebracht haben!

 

Zwei Monate später, die Zuschauer sind längst heimgegangen und ich beobachte im trüben Novemberlicht, wie der Strandkorb auf meinem Balkon bei gefühlter Windstärke 10 versucht abzuheben und es den kreischenden Möwen am Himmel gleichzutun. Ich höre das Grollen des Meeres und hoffe, dass hier im Ort der Küstenschutz von Leuten geplant wurde, die sich auskennen. Die Sonne hat sich seit Tagen nicht blicken lassen… naja, immerhin eine Rechtfertigung dafür, dass der Vorsatz, jeden Morgen mit einem Strandspaziergang zu starten, schon seit längerem brachliegt. An manchen Tagen nimmt der Alltag, der sich auch hier unvermeidlich einstellt, soviel Platz ein, dass selbst die wenigen Meter zum Meer sich unendlich weit anfühlen.

 

Ich gebe mir einen Ruck, packe mich warm ein und stapfe zum Strand. Der Wind zerrt an mir, schiebt mich umher und reißt meinen Atem an sich. Im Dämmerlicht leuchten die weißen Wellenkronen auf und werden an den Strand geworfen, ein Schauspiel unglaublicher Kräfte. Außer mir sind nur noch die Möwen hier, begeistert über den Wogen kreisend. Der Ort ist menschenleer und dunkel. Fröstelnd schiebe ich die Hände in die Taschen. Ob meine Vorstellungen vom Leben am Meer vielleicht etwas zu romantisch waren? Jetzt, wo die Sehnsucht nach Ostsee kein Traum mehr ist, sondern Realität, stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Ist das nun das Ende der Reise, ein Ankommen zuhause? Oder doch eher der Beginn eines ganz neuen Abenteuers, die nächste große Suche nach dem Meer im Inneren? Neue Herausforderungen und Ziele für das Sehnen, das dauerhaft suchen will? Für einen Moment stockt der Sturm, der Wind flaut etwas ab, es wird merklich stiller und selbst die Möwen hocken nun andächtig im Sand. Ganz plötzlich erscheint mir all das Rennen und Suchen und Verzehren nach Zielen in der Ferne so unendlich sinnlos und anstrengend. Ich setze mich zu den Möwen, wir schließen die Augen und beobachten das Meer.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0