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Fremde Heimat

„Wenn es einen Ort gibt, wo alle Träume seit den ersten Tagen, da der Mensch zu träumen begann, eine Heimat gefunden haben, dann ist es Indien.“ (Romain Rolland)

 

Keine Ahnung, ob meine Träume einfach heimatlose Nomaden waren, nach Indien wollten sie jedoch meines Wissens nie. Auch für mich war Indien kein ersehntes Reiseziel: als Gelegenheitshypochonder war die Aussicht auf Cholera, Typhus, Tollwut und Dengue-Fieber in der freien Wildbahn nicht besonders einladend. Was ich über das Kastensystem und die Rolle der Frau in diesem Land wusste, ließ mir Indien ebenfalls zu fremd erscheinen, um wirklich als Sehnsuchtsort auserkoren zu werden. Indien hingegen schien fest entschlossen, sich doch noch in mein Leben zu schleichen. Zunächst ganz dezent tauchte es in einem meiner Lieblingskinderbücher auf, dann in Gestalt einer Freundin mit indischen Wurzeln, die mich zu Studienzeiten zu Bollywood-Parties überredete. Dann tauchten immer häufiger indische Kollegen in meinem Arbeitsleben auf, bis Indien schließlich befand, dass ich nun reif für eine Audienz war. Es schickte mir einen ganz besonderen Botschafter, durch den ich überraschend entdeckte, dass manche Träume sowohl an der Ostsee als auch am Ganges geboren werden.

 

Obwohl meine Vorurteile protestierten und alle möglichen Ängste aufboten, fand ich mich schließlich nach wenigen Stunden Flug in einer Welt wieder, die nach so anderen Regeln funktioniert, dass ich mich selbst beim Überqueren einer Straße absolut hilflos fühle. Intensiv leuchtende und leidenschaftliche Farben bei Kleidern, Gewürzen und Schmuck sprühen vor unbändiger Lebensfreude, während direkt daneben Schmutz, Abfall und Elend in Grautönen von Tod und Vergänglichkeit erzählen. Respektvolle Gastfreundschaft und höfliche Aufmerksamkeit kollidieren mit fliegenden Händlern, die alle meine Grenzen und Nein-Sagen komplett ignorieren. Auf der einen Seite unbeschränkte Freiheit und Dimensionen, die europäische Vorstellungen vollends sprengen, und auf der anderen Seite strikte Regeln in den Familien und Menschen, die wahrscheinlich ihr kleines Dorf noch nie verlassen haben. Menschen, die in unvorstellbarer Armut leben und dennoch eine tiefe innere Zufriedenheit ausstrahlen.

 

Mein Verstand ist hier ständig am Sortieren und Bewerten, um schließlich stolz zu verkünden, das Rätsel Indien nun endlich gelöst zu haben. Sibyllinisch lächelnd dreht Indien das Kaleidoskop erneut und – klirr!! – zerspringt meine Lösung in tausend Stücke, immer wieder, bis schließlich mein Verstand aufgibt. Endlich befreit von all dem Denken nehme ich nun wahr, wie hier die Gegensätze miteinander tanzen: Farben, die sich manchmal harmonisch, manchmal wild beißend immer wieder neu zusammenfinden. In den Kombinationen gleicht sich kein Teil der Harmonie willen den anderen an und genau deswegen kommen alle zu ihrer vollen Entfaltung. In Indien findet das Leben ohne Filter statt, roh, wild, frei und intensiv, alle Extreme können hier gleichzeitig und am selben Ort passieren. Und so wacht auf der Reise in mir ein Teil meiner Seele auf, die nach purer Lebendigkeit hungerte: so glücklich, so traurig, so mächtig, so klein, so hoffnungsvoll, so verzweifelt habe ich mich bisher noch nirgendwo gefühlt. 

 

Als ich schließlich im Flugzeug nach Hause sitze und unter mir Indien langsam unter der Wolkendecke zu einer Erinnerung wird, fühle ich mich erleichtert, nun wieder in meine viel ruhigere Heimat zurückzukehren. Und doch fühle ich, wie Indien eine kleine Flamme entfacht hat, wie etwas ganz Neues in mir pulsiert: die Sehnsucht nach der Intensität des Lebens, die in diesem schrecklichen, wunderbaren, unbarmherzigen und doch so großzügigen Land so stark ist, weil einfach nichts ausgeklammert ist. Ein Leben in Indien? Niemals! Doch nun ist Indien in einen Winkel meiner Seele eingezogen und verleiht von hier aus meinen Träumen und Gedanken eine Tiefe, Dankbarkeit und Lebensfreude, die sie vorher nicht kannten. Namaste, mera dost Bharat! Ich verbeuge mich vor dir, mein Freund Indien – ob wir uns wohl nochmal wiedersehen?

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