Ich erinnere mich, wie ich früher oft in Büchern zum Ende geblättert habe, wenn die Spannung nicht mehr auszuhalten war. Wer ist denn nun der Mörder? Nun stehe ich mir selbst gegenüber, einer Zeitreisenden, die schon weiß, was nächstes Jahr, nächstes Jahrzehnt passieren wird. Ruhig schaut sie mich an. Augen, die vertraut sind, aber schon viel mehr gesehen haben als meine. Wieviel Freude, wieviel Schmerz, die mir noch unbekannt sind.
Die Versuchung ist stark: wie geht es in dieser einen Freundschaft weiter, wie lange werde ich an diesem Ort wohnen, wieviele Leidenschaften werde ich noch neu entdecken, wieviel Verluste erleiden? Ich denke zurück an meine Krimilektüre: so befriedigend sich die schnelle Lösung erstmal anfühlte, so schal und ausgehöhlt wurde das Weiterlesen mit dem Wissen, dass der nette Gärtner doch heimlich ganz schön tiefe Abgründe hat. Will ich es nun wirklich wissen, wie alles für mich so weitergeht? „Klar!“ ruft mein Verstand, der am liebsten auf alles sofort eine Antwort hätte, „frag schon!“ Wissend lächelt mein Gegenüber mich an. Natürlich weiß sie, was in mir vorgeht, schließlich ist sie ja schon viel länger ich. Aber irgendwas fühlt sich an ihr weiser, geduldiger an, als ich es jetzt noch bin. Waren es Leid, die Demut über die eigene Machtlosigkeit, die sie haben reifen lassen? Waren es wunderbare Glücksfälle, die das unerschütterliche Vertrauen ins Leben gestärkt haben?
Ich schüttele langsam den Kopf. „Nein, erzähl mir nichts, das werde ich ja alles sehen, wenn es Zeit dafür ist.“ Sie umarmt mich zum Abschied, zieht mich an sich und flüstert mir leise ins Ohr: „Lass dich auf die Reise ein, du musst gar nicht wissen, wo es hingeht. Danke für all die Wege, die du jetzt gehst, denn sie haben mich dahin geführt, wo ich jetzt bin.“ Dann dreht sie sich um und geht. Lange schaue ich ihr nach.
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